Der selbsternannten Propheten sind im Internet-Zeitalter viele, und dies gilt naturgemäß auch für den Kaffeesektor. Der Name des mehrfachen Barista-Weltmeisters, Rohkaffee-Importeurs und Mikrorösters Tim Wendelboe indes lässt nicht ohne Grund allerorten Augenbrauen emporschnellen. Heller röstet keiner. Besser, sagen Viele, die es wissen sollten, auch nicht. Höchste Zeit für einen Hausbesuch beim Meister der Fruchtnoten in Norwegen.
Von Machern & Maschinen
Tim Wendelboe
Im Sinne der Reinheit
„Aus einem Spitzenkaffee kann im Grunde gar kein schlechter Espresso werden. Lediglich seine Qualitäten treten intensiver hervor…“
Rubrik
Von Machern & Maschinen
Date
30. September 2013
Ort
Oslo
Erschienen in
Crema 04/2013
Oslo, Ende September. Der Sommer ist doch noch einmal zurückgekehrt, und alles sitzt im Freien. Auch vor Tim Wendelboes etwas abseits gelegener Rösterei und Kaffeebar im Trendbezirk Grünerløkka hat es sich an diesem Vormittag ein Grüppchen junger Leute auf spartanischen Sitzmöbeln bequem gemacht und blinzelt in die Sonne. Im Inneren des recht kleinen Ladens, der von einem mitten im Hauptraum stehenden, komplett renovierten alten Probat-Röster dominiert wird, bestimmt kühle Sachlichkeit das Bild: kein Schnickschnack, bis auf Croissants keine Speisen, dafür gut eingespielte Betriebsamkeit und Know-How hinterm Tresen. „Manche hier nennen mich den ‚Suppen-Nazi’“, lacht Wendelboe und gibt zu, dass er lieber seinen Probat mit Cropster, einem digitalen Röstprofil- und Analyse-Tool, sowie einem variablen Frequenz-Driver für den Abluft-Ventilator aufmotzt als „sich über Tortenkreationen und Tagessuppen den Kopf zu zerbrechen.“
Dass er mit diesem Denken in seiner Heimat beileibe nicht allein dasteht, beweist nicht nur sein eigener Erfolg, sondern auch die schiere Anzahl weiterer erstklassiger, meist aufs Nötigste fokussierten Espressobars in der Stadt (s. Guide in diesem Heft). Wenn indes Kollegen aus anderen Ländern Norwegen bereisten und dächten „hey, das machen wir auch“, könne er nur viel Spaß wünschen: „So etwas geschieht nicht über Nacht“, meint Wendelboe, während wir uns kurz darauf in seinem gefühlte zwei Quadratmeter messenden Büro nebeneinander an seinen übervollen Schreibtisch zwängen. „Seine Kundschaft von mittelmäßigen, dunklen Standard-Röstungen auf viel heller geröstete, hochklassige, teure Kaffees umzustellen, ist eine echte Herausforderung.“
Herr Wendelboe – nach all den Jahren als einer der heute weltweit meist respektierten Kaffee-Kenner: Kann Sie überhaupt noch ein Kaffee derart umblasen, dass Ihnen die Worte fehlen?
(lacht) Absolut. Ich war erst letzte Woche in Brasilien, das ich als herausragendes Kaffeeland schon beinahe abgeschrieben hatte; bloß noch Langeweile und Nuss. Als ich aber nach Espirito Santo kam, musste ich mein Urteil revidieren. Ich hatte dort ein paar echte Erweckungserlebnisse. Man muss bloß akribischer suchen.
Haben Sie davon gerade etwas in der Mühle?
Nein, momentan servieren wir als Espresso einen unglaublich säurelastigen Gikanda aus Kenia und einen Single Origin aus Honduras, der mit seiner ausbalancierten Frucht und Mandelnote einen perfekten Kontrast bietet. Als Filterkaffee kann man bei uns alles bestellen, was wir gerade auch verkaufen.
Der eben erwähnte Brasilianer – wäre das eher ein Filter- oder ein Espressokandidat?
Für mich gibt es da keinen Unterschied. Kaffee ist Kaffee – und die Zubereitungsart am Ende Ihre Entscheidung. Die Charakteristik als solche bleibt bei einer guten Provenienz stets erhalten, egal, was man damit anstellt. Es sei denn, du röstest ihn mausetot. Anders formuliert: Aus einem Spitzenkaffee kann im Grunde gar kein schlechter Espresso werden. Lediglich seine Qualitäten treten intensiver hervor…
…es sei denn, man verheizt ihn als Cappuccino. Trinkt ein Kaffee-Fachmann wie Sie überhaupt noch Milchgetränke? Gott, nein! Ich probiere sie, klar – aber trinken?
Keine Chance. Milch langweilt mich. Obwohl: Ist die Milch cool, so wie in Dänemark, kann mitunter sogar was Spannendes entstehen. Da probiere ich dann durchaus auch mal eine Tasse Cappuccino. Hier bei uns in Norwegen bleibe ich definitiv lieber beim Long Black.
Womit wir noch einmal bei meiner Eingangsfrage wären: Wann haben Sie hier in Oslo zuletzt einen wirklich perfekten Espresso genossen?
Abgesehen von meinem eigenen, meinen Sie? (überlegt kurz) Ganz ehrlich: nie. Mich interessiert diese Zubereitungsart aber auch nur noch peripher. Seit diesem Sommer weiß ich endlich auch, warum das so ist.
Nämlich?
Weil die Extraktionstiefe quasi nie stimmt. Der Lauf der Dinge ist stets derselbe: Die Leute unterextrahieren, und um die dann entstehende Säure zu kompensieren, rösten sie einfach dunkler und übetreiben es mit der Überdosierung. Also ziehen sie kürzere Shots – und enden abermals in der Unterextraktion. Dumm gelaufen.
„Wer sich da in den vergangegen Jahren als kleines Startup einen Namen machen wollte, der musste schon früh aufstehen.“
Mit Verlaub, das klingt etwas vermessen. Es gibt doch inzwischen eine ganze Handvoll sehr akribisch arbeitender Röster und Espressobars, die fraglos auch wissen, was sie tun. Nehmen wir etwa Ihre Kollegen von Supreme Roastworks gleich um die Ecke.
Bitte nicht in den falschen Hals bekommen: Diese Leute verstehen durchaus was von der Materie, und ihr Espresso ist sicher um Längen besser als fast überall sonst auf der Welt. Aber richtig weggeblasen hat mich auch hier bei uns schon ziemlich lange nichts mehr. Vielleicht bin ich inzwischen einfach zu anspruchsvoll und abgebrüht. Für mich ist Oslo eher ein Ort, an den man reisen sollte, wenn man etwas in Sachen Filterkaffee erleben will. Da macht uns hier oben so leicht keiner etwas vor.
Wie bewerten Sie im Vergleich dazu eine Stadt wie Berlin in punkto Kaffeeszene?
Ach Gott…von ein paar Ausnahmen abgesehen als ziemlich durchschnittlich. Sorry. Es gibt eine Handvoll guter Leute – aber wie viele Einwohner hat Berlin?
Viereinhalb Millionen.
Sehen Sie, das ist ganz Norwegen. (lacht) In Oslo leben gerade mal 500.000 Menschen – trotzdem gibt es erheblich mehr gute Kaffeebars. Bei uns spielen selbst die Ketten, etwa Kaffebrenneriet oder Stockfleth’s, ziemlich weit oben mit. Natürlich steht und fällt das am Ende immer mit dem Barista.
Was also ist das Geheimnis der hiesigen Szene und ihrer Qualität?
Ich denke einfach, dass Solberg & Hansen, die Traditionsrösterei hinter Stockfleth’s, seinerzeit sehr früh einen Standard gesetzt haben. Das fängt beim Einkauf an, erstreckt sich über erstklassiges Training der Mitarbeiter und hört beim Top-Equipment und hervorragenden Hygieneroutinen noch lange nicht auf. Wer sich da in den vergangegen Jahren als kleines Startup einen Namen machen wollte, der musste schon früh aufstehen. Kaffebrenneriet, die hier zur größten Kette avanciert sind, sind heute nicht umsonst rein mengenmäßig die größten Verkäufer von Cup of Excellence-Kaffees weltweit.
Im Ernst?
Aber ja. Wenn das deine Basis ist, musst du dich definitiv anstrengen, um das toppen zu können. Deshalb gibt es hier Röster wie Kaffa, Supreme Roastworks oder eben uns. Das einzige Hindernis für uns Kleine war lange, an entsprechende Rohkaffeequalitäten zu kommen…
…weshalb Sie mit Morten Wennersgaard kurzerhand auch noch Nordic Approach gegründet haben, um gemeinsam größere Volumen einkaufen zu können.
Da runter zu fliegen und zehn hervorragende Säcke auszusuchen, ist das eine. Die Probleme fangen hinterher an, beim Transport. Zehn Säcke aus Honduras nach Oslo zu verschiffen ist finanziell reinster Selbstmord. Ganz zu schweigen von der Logistik oder der Frage nach der Konsistenz, die man gemeinsam mit den Farmern vor Ort mühsam über Jahre aufbauen muss. All das sind Herausforderungen, bei denen wir mit Nordic Approach helfen können.
Dann passt es ja, wenn wir für einen Moment noch einmal auf das Thema Filtern zurückkommen. Momentan sieht es ja so aus, als schwinge das Pendel enorm in diese Richtung zurück. Halten Sie diese Faszination für einen vergänglichen Hype oder für etwas Stabiles, das bleiben wird?
Ein Hype ist es keinesfalls. Generell könnte man sagen, dass das zugrundeliegende Problem des Espresso die Konzentration ist, die ihn sozusagen seinem Ursprungszustand entrückt. Ausgewählt wird der Rohkaffee ja durch Cupping. Es scheint mir deshalb nur naheliegend, ihn am Ende auch in ähnlicher Form zu trinken, eben als Filterkaffee. Schließlich ist es ähnlich wie bei Wein und Whisky: Auch von Letzterem können Sie in der Regel nicht mehr genießen als ein oder zwei Shots. Wein dagegen ist nicht so konzentriert, was es einem ermöglicht, mehrere Gläser hintereinander zu trinken – und sich so genauer auf die Komplexität der Aromen zu konzentrieren. Ein Espresso ist stets ein Schlag ins Gesicht. Nichts, was man wirklich genießt, während man sich gemeinsam niederlässt.
Gibt es dennoch Spielarten, die Sie partout nicht verstehen?
Klar, Cold Brewing zum Beispiel. Es fügt dem Rohstoff nichts Positives hinzu, sondern verstärkt bestenfalls unangenehme Säuren, Tannine. Kaffee schmeckt, wie er eben schmeckt, und diese Reinheit erfahrbar zu machen, darum geht es mir. Latte Art dagegen mag zwar schmückendes Beiwerk und als solches nicht essenziell sein; wichtiger ist, dass die Qualität – Temperatur, Textur, Verhältnis, Extraktion, Geschmack – perfekt ist. Gleichwohl würde ich darauf in meiner Bar nicht verzichten wollen. Ich sehe das als Kompliment an den Gast, als Tüpfelchen auf dem „I“.
Könnte man demnach die Prognose wagen, dass es mehr und mehr um die wissenschaftliche Seite gehen wird – und weniger um das Künstlerische?
Auch wenn es für einige Menschen schwer ist, dies zu akzeptieren, ja. Manchem mag diese Entwicklung Angst machen. Erwähnen Sie mal in Italien ein Refraktometer oder ExtractMojo. Die schauen Sie an, als hätten Sie sie nicht alle. (lacht) Aber für mich ist das längst Alltag. Es sind wichtige Hilfsmittel, die mir auch an schlechten Tagen dabei helfen, zumindest eine anständige Tasse Kaffee zuzubereiten. Für mich persönlich besteht die künstlerische Seite des Ganzen schon längst im Tasting – nicht darin, wie du tampst, Milch in eine Tasse gießt oder den Shot ziehst. Das alles sind nur praktische Schritte auf dem Weg, das Beste aus jeder Bohne zu holen.
Und Sie meinen, das ist die Hauptaufgabe.
Genau. Mein Traum wäre eine Maschine, die das Optimum aus einer Provenienz holt – am besten auf Knopfdruck. Ein perfekter Vollautomat, der mit wissenschaftlichen Parametern arbeitet. (lacht) Seien wir ehrlich: Du fügst dem Produkt nichts hinzu, indem du tampst. Das kann auch eine Maschine.
Gleichwohl haben auch Sie sich ganz klassisch über die Barista-Schiene die ersten wichtigen Sporen verdient damals bei Stockfleth’s. Was hat Sie seinerzeit so fasziniert an dem Thema?
Der Wettkampfgedanke, glaube ich. Eigentlich sollte es ja nur ein Zeitjob sein. Zuvor bestand mein ganzer Erfahrungsschatz darin, für den Strickkreis meiner Mutter Filterkaffee zu kochen. (lacht) Ich habe nicht einmal Kaffee getrunken. Schon als Kind mochte ich es, wenn mir jemand Feedback gab; ich hatte sogar einen Geheimtrick: einen Extralöffel Pulver, meine Art von Overdosing. So richtig ehrgeizig wurde ich aber erst, als mein Boss mich mehr oder weniger nötigte, an Wettbewerben teilzunehmen.
Er hat Sie gezwungen?
Na ja, nicht direkt. Er hat mich einfach eingetragen, weil sie noch Teilnehmer brauchten. Als ich dann relativ schlecht abschnitt, hatte ich Blut geleckt.
Würden Sie sagen, dass Sie heute noch immer besser werden in der Zubereitung von Espresso?
Allerdings. Gerade diesen Sommer habe ich enorm viel dazugelernt durch den Einsatz des Refraktometers in Kombination mit ExtractMojo. Man könnte ohne Frage soweit gehen zu behaupten, dass ich seither mein Basiswissen noch einmal neu erwerben musste. Wenn du anfängst, dir das Rösten beizubringen, ist plötzlich auch auf der Zubereitungsebene kaum mehr ein Stein auf dem anderen. Speziell bei hellen Röstungen wird fast automatisch unterextrahiert – und damit meine ich nicht bloß zu schnelle Shots, sondern eben auch zu viel Kaffee bei zu wenig Wasser. Da ist jede Menge Feintuning nötig.
„Je mehr Erfahrung man hat, desto weniger benötigt man seine Hilfe. Ich gehe soweit zu behaupten, dass kein Barista, der noch nie mit ExtractMojo gearbeitet hat, weiß, was er tut.“
Dann rösten Sie doch einfach etwas dunkler und machen sich das Leben nicht so schwer.
(lacht) Nein, wir wollen den Kaffee ja eben gerade nicht backen, wie wir das nennen, und damit in die Bitternis jagen. Ich will die natürlich vorhandenen Fruchtnoten schmecken; einfach das, was da ist.
Apropos „Feintuning“: Wie elementar ist bei alledem, was Sie heute tun, das bereits erwähnte ExtractMojo?
Ich nutze es jeden Tag, ohne Scherz. Ich kann schlicht nicht mehr ohne, weshalb ich drei davon besitze: eines für zu Hause, eines im Büro und ein weiteres hier in der Bar. Im Grunde tut es ja nicht mehr, als dir zu sagen, wo du stehst; es ist ein besseres Thermometer. Fehlen dir diese Informationen, kann man sich bei all den Parametern, Brühmethoden, Kaffeesorten und Mühlen durchaus schnell verlieren. Es ist wie ein Kompass. Inzwischen weiß ich schon bevor ich einen Espresso schmecke, ob ich ihn mag.
Hilft es Ihnen auch beim Rösten?
Ganz enorm sogar. Mit seiner Hilfe kann ich beim Tasting bestimmen, woher eine bestimmte vorherrschende Note stammt. Der Shot mag unangenehm sauer sein – doch daran kann versehentliche Unterextraktion ebenso schuld sein wie eine zu helle Röstung. Je mehr Erfahrung man hat, desto weniger benötigt man seine Hilfe. (überlegt) Ich gehe soweit zu behaupten, dass kein Barista, der noch nie mit ExtractMojo gearbeitet hat, weiß, was er tut. Das ist in etwa dasselbe wie wenn ich beim Rösten nicht die Farben im Griff hätte. Für einen Profi sollten diese 500 € nicht zu viel sein.
Aber wie viel Wissenschaftlichkeit verträgt das Thema Kaffee am Ende?
Eine Menge, glauben Sie mir. Aber ganz ohne Geschmacksknospen und Sensorik geht es natürlich auch nicht. Am Ende sind Prozentwerte wie die Extraktionstiefe doch bloß Zahlen – und die kann man zum Glück nie über einen Kamm scheren. Auf der anderen Seite der Bar steht der Gast. Ohne Refraktometer. Ich aber will verstehen, woher der Geschmack kommt.
Was, wenn der Gast auch ein Refraktometer hat?
Na, umso besser! Dann könnte ich ihm zu einem Kaffee von uns sagen: ‚Tu dies, und der Kaffee wird ein Hammer, weil er dann so und so schmeckt.’ Wir würden uns verstehen und endlich über dasselbe reden. Die artistische Seite hat nichts mit dem Ergebnis in der Tasse zu tun, sondern sollte separat betrachtet werden.
Dann tun wir das mal: Denken Sie sich bei all den Barista-Competitions und Latte-Art-Throwdowns nicht auch manchmal Ihren Teil?
Klar, von Zeit zu Zeit läuft es aus dem Ruder und geht gar am Thema vorbei. Aber Fakt ist: Nichts trainiert und schult dich besser, als ein Wettbewerb. Macht es deshalb Spaß sich sowas anzuschauen? Nein, es ist meistens zum Einschlafen langweilig. Beim Thema Latte-Art sollte man auch niemals vergessen, dass das Ganze am Ende des Tages ein Getränk bleibt. Und das sollte man mit Genuss trinken wollen. Also: Erst kommt die Textur – dann die Galerie.
Speziell die Italiener dürften eine Menge des nerdigen Getues nicht ohne Grund belächeln.
Ganz sicher. Auf der anderen Seite wären gerade sie diejenigen, die aus solchen Wettbewerben eine Menge lernen könnten. Bis heute denken die Italiener nämlich, sie wären an der Espressomaschine unantastbar – was sie de facto schon längst nicht mehr sind. Im Gegenteil: Sie hinken um Jahre hinterher. Der italienische Barista-Champion Francesco Sanapo ist offen und selbstkritisch genug, sich das einzugestehen – und hat sich dem neuen System geöffnet. Heute hat er damit selbst in seiner Heimat einen riesigen Erfolg. (überlegt) Wissen Sie, wahrscheinlich muss man das verstehen. Es ist in etwa so, als käme ein Grieche nach Deutschland und zeigte Ihnen, wie man Autos baut.
Bereits 1996 schrieben Sie sinnbildlich: „Ich habe immer gehofft, dass die Welt in die richtige Richtung strebt, sofern sich ihr die Möglichkeit bietet. Nun habe ich diese Hoffnung verloren.“
Das stimmt ja auch. Ich frage Sie: Hat sich in den letzten 50 Jahren irgendwas zum Besseren gewendet? Nehmen sie Krankheiten wie den Krebs: Der wurde bestimmt schon 100 Mal von den Zeitungen für besiegt erklärt. Nichts als Augenwischerei.
Wovor graut Ihnen zu Beginn des 21. Jahrhunderts mehr: vor dem Blick aus dem Fenster oder jenem ins Internet?
Vor der ganz ordinären, gewöhnlichen, gemeinen Welt. Mit einem Wort: Die Politik macht mir Angst. Mord und Totschlag. Das Internet ist eher zum Verzweifeln; ein Ärgernis, wenn Sie mich fragen. Dass sich der sogenannte technische Fortschritt nach Evolutionsgesetzen vollzieht und demnach irreversibel ist, ist ein Fakt. Man kann das hinterfragen, aber nicht stoppen. Zu glauben, dass wir deshalb im Umkehrschluss irgendwann alles meistern würden, wäre allerdings genauso naiv. Lassen Sie es mich so ausdrücken: Wer zum Gipfel klettert, merkt auch bloß eines mit letzter Gewissheit – nämlich, dass von dort alle Wege nach unten führen.
Sie haben sich nachweislich lange gesträubt, einen Computer zu benutzen, geschweige denn einen Internetanschluss legen zu lassen. Inwiefern nutzen Sie diese Komponenten inzwischen?
Gott behüte, gar nicht! Ich kann diese Geräte nicht einmal einschalten. Das übernimmt mein Sekretär.
Was genau meinen Sie mit einem Satz wie dem folgenden: „Sollte die Hölle existieren, so wird sie computerisiert sein.“ Der Computer an sich ist ja erst mal nichts Schlechtes.
Das war natürlich bloß Spaß. Der Computer ist nicht mehr als ein mechanisches Vieh. Eine elektronische Kuh, die Daten wiederkäut. (lacht) Er ist ein Werkzeug, vergleichbar einem Hammer. Einen eigenständigen Einfall dürfen Sie da nicht erwarten, zumindest keinen sinnvollen. Und mit einer Moral können Sie ihm auch schlecht kommen.
Dann verraten Sie mir doch mal Ihre persönliche Meinung zum heutigen italienischen Espresso-Standard.
Besser nicht, ich mache mir bloß unnötig Feinde. (überlegt) Ich schätze die kulturelle Seite daran; den Fakt, dass es eine Caffè-Bar an jeder Straßenecke gibt. Dass die Betreiber wissen, wie es dort aussehen sollte. Gleichzeitig aber denke ich, dass die meisten Italiener ihren Stolz verloren haben.
Wie meinen Sie das?
Es ist einfach beschämend, wie viel Schrott einem da unten mittlerweile geboten wird. Ich denke auch, dass sich die Italiener über lange Jahre selbst in den Fuß geschossen haben mit Ihrem Anti-Wucher-Gesetz. Bis vor kurzem legten die Kommunen fest, wie viel der Kunde für einen Espresso maximal an der Bar bezahlen durfte – was den Einsatz wirklich hochwertiger Bohnen gleichsam unmöglich machte. Zum Glück haben sie das jetzt gestoppt. Dennoch: Italien ist derzeit kein interessantes Land für Kaffeeliebhaber. In nahezu keiner Hinsicht.
Kein italienischer Kollege, den Sie uneingeschränkt empfehlen könnten?
Nicht wirklich, leider. Am ehesten noch Caffè del Doge aus Venedig, die sind für italienische Verhältnisse extrem experimentell. Und Francesco Sanapo hat ein Filterkaffeeprojekt mit Corsini am Laufen, das ganz spannend klingt.
In der Tat steht Italien nicht für Experimente. Eher für Konsistenz, fußend auf Generationen von Erfahrung. Können Sie die garantieren?
Ich denke schon, nicht zuletzt mithilfe der erwähnten Mittel. Allerdings immer nur für eine Ernte, denn Kaffee ist und bleibt ein Naturprodukt – und als solches automatisch Veränderungen unterworfen. Der Unterschied ist aber auch: Ich mache keine Blends, sondern ausschließlich Single Origins. Für mich macht nichts anderes mehr Sinn. Mir geht es ja gerade um die Unterschiede der verschiedenen Provenienzen, nicht um ein gegenseitiges auslöschen oder Einebnen von Spitzen. Ich möchte die Spannweite des Erfahrbaren so rein wie möglich herausarbeiten. Ein Sommelier würde ja auch kaum einen halbguten Franzosen und einen etwas flachen Wein aus der Toskana zusammenpanschen, damit es nicht so auffällt. Das ist nicht meine Idee von Kaffee.
Woher könnte es rühren, dass dunkler und dunkler geröstet wird, je südlicher man in Europa kommt?
Dafür gibt es eine ganz banale Erklärung, und Italien ist ein gutes Beispiel: Der Norden ist reich, er hat das Geld, sich gute Arabica-Rohkaffees zu leisten. Diese schmecken besser, und deshalb kann man sie problemlos heller rösten, wodurch man mehr vom Eigenaroma erhält. Je südlicher du gehst, desto ärmer werden die Menschen. Sie kaufen traditionell mehr Robusta, der per se etwas dunkler geröstet wird. Den minderwertigen Geschmack der verwendeten Arabicas überdecken sie mit Röstaroma. Dazu etwas Zucker – et voilà! Schmeckt fast wie halbwegs guter Kaffee.
Ich bezweile, dass Sie neapolitanische Freunde haben.
(lacht) Jedenfalls keine Röster. Die sollten lieber bei Pizza und Wein bleiben, davon verstehen sie mehr. In Deutschland sieht es bei den Großen allerdings nicht viel besser aus. Für uns schmeckt deutscher Mainstream-Kaffee zum Wegrennen. Es kommt natürlich auch aufs Referenzsystem an: Amerikaner meines Alters sind mit Starbuck’s aufgewachsen, die sehr dunkel rösten. Also gilt alles, was gute Röstereien wie Intelligentsia machen, als hell und fruchtig. Von uns ist es diesbezüglich gleichwohl um Längen entfernt.
Ihre generelle Einschätzung zu Robusta?
Ich habe mindestens zehn Jahre versucht, ihn zu mögen. Aber was soll ich groß drumrum reden: Robusta schmeckt wie verbranntes Popcorn mit einem Schuss Erde. Es mag Einzelfälle geben, wo das funktioniert. (überlegt) Im Rahmen eines Wettbewerbs habe ich meinen Cappuccino mal mit einem reinen indischen Robusta gemacht, um diese spezielle Erdigkeit zu unterstreichen. Ein Juror gab mir sechs, der andere null Punkte.
„Je älter der Kaffee, desto rapider verliert er nach dem Öffnen. Einen unter Spezialatmosphäre abgepackten Illy können Sie mitunter nach einem halben Jahr noch gut trinken – aber dann eben nur kurz.“
Ein abschließender Punkt, der mich sehr interessiert, ist das immer wieder heiß diskutierte Frische-Thema. Was ist für Sie ein noch frischer Kaffee?
Das kommt sehr darauf an, wie er gelagert und geröstet wurde. Ich gebe Ihnen zwei Beispiele. Nummer eins: Luftgekühlter, hell gerösteter Filterkaffee, den Sie in einem Ventilbeutel kaufen, sollte nach etwa einer Woche seinen optimalen Geschmack entwickelt haben, den er ca. eine weitere Woche behält; danach verliert er kontinuierlich. Nummer zwei: eine dunklere Espressoröstung. Hier spendieren wir ebenfalls sieben bis neun Tage zum Ausgasen, danach wird der Kaffee sehr süß und rund schmecken für mindestens 10 Tage und auch danach noch eine ganze Weile länger gut trinkbar bleiben. Wir hatten mal einen Kenianer, der nach fast einem halben Jahr noch im Blindtest einen röstfrischen Kandidaten an die Wand spielte.
Wie kann das gehen?
Ausnahmen bestätigen die Regel. Wir schauten auch komisch aus der Wäsche. Ich bezweifle aber, dass einem so was mit einem brasilianischen Kaffee passieren würde. Kenianer sind unfassbar aromatisch und erhalten sehr lange ihre Fruchtigkeit.
Aber ansonsten würden Sie niemandem raten, in den Laden zu gehen und drei Monate alten italienischen Espresso zu erwerben.
Ich würde generell keinen italienischen Espresso kaufen, aber nach drei Monaten haben Sie höchstens noch einen malzigen Cappuccino in der Tasse. Und klar ist auch: Je älter der Kaffee, desto rapider verliert er nach dem Öffnen. Einen unter Spezialatmosphäre abgepackten Illy können Sie mitunter nach einem halben Jahr noch gut trinken – aber dann eben nur kurz.
Stimmt es eigentlich, dass erst kürzlich neben den etwa 60 bekannten Kaffee-Arten, von denen mit Arabica und Robusta hauptsächlich zwei wirtschaftlich genutzt werden, 60 weitere entdeckt wurden?
Ja, zu allem Überfluss sogar allein auf Madagaskar. Und nichts davon ist bis jetzt probiert, geschweige denn sensorisch ausgewertet worden. Das sind komplett weiße Stellen auf der Landkarte.
Das ist kaum zu glauben. Warum hat das so lange gedauert?
Weil wir nicht besessen genug sind, was Kaffee angeht. Soja, Mais, Kartoffeln: Überall werden Unmengen Geld für Forschung ausgegeben, nur hier nahezu nichts. Ich versuche gerade, einige Proben zu organisieren. Sie können sich nicht vorstellen, wie gespannt ich bin.
Doch, ich merke es.
Ich habe nur ein großes Ziel: den bestmöglichen Kaffee zu rösten. Mit allen mir zur Verfügung stehenden Mitteln – wenn es sein muss, bis hinunter zum Farming. Momentan plane ich ernsthaft den Ankauf von Land in Kolumbien.
Mit anderen Worten: Sie sind ein Kontrollfreak.
(lacht) Mag sein. Ich zahle gerne einen deutlich höheren Preis, aber ich erwarte auch die Einhaltung meiner Qualitätskriterien. Nur deshalb bin ich hier.