Coffee & Cigarettes
Joseph Weizenbaum vs. Norbert Bolz
„Wir übersehen
das große Ganze!“
Joseph Weizenbaum
„Was die Leute heute überwiegend mit dem Netz anstellen – das Surfen ohne klar definiertes Ziel – ist eine Dummheit.“
Joseph Weizenbaum
Rubrik
Coffees & Cigarettes
Date
14. Dezember 2005
Ort
Berlin, Deutschland
Interview
Patrick Großmann & Sascha Krüger
Fotos
Erik Weiss
14.12.2005, Berlin. Im 14. Stock des Telefunken-Hochhauses der Technischen Universität sitzen sich zwei Theoretiker des Fortschritts gegenüber, die unterschiedlicher kaum sein könnten: die 83-jährige Informatik-Ikone Joseph Weizenbaum und der Medienphilosoph Norbert Bolz, 52. Ein Streitgespräch.
Herr Weizenbaum, Herr Bolz: Waren Sie beide heute schon im Internet?
Joseph Weizenbaum (schnauft) Ich ja.
Dann haben Sie meine Mail erhalten?
Weizenbaum Nein. Es funktionierte mal wieder nicht, und um stundenlang daran rumzufummeln, fehlte mir die Zeit. Aber ich habe mein Laptop dabei. Wenn nötig, kann ich meine Post auch hier abrufen. Was ich sehen konnte: Es waren exakt 871 neue Mails – von denen bestimmt acht interessant sind…
Norbert Bolz … und über 700 Viagra-Angebote. (lacht) Ich war ebenfalls noch nicht online, ich gehe generell nicht ins Netz, bis sich mal eine entspannte Viertelstunde findet. Es gibt keine Mail, die so dringend wäre, dass ich sie unmittelbar lesen und beantworten müsste. Glauben Sie es oder nicht: Ich habe in meinem Leben ganze zwei Aufträge verpasst, weil ich nicht in Echtzeit kommuniziert habe. Wir sind keinesfalls Sklaven unserer Medien, wie es immer so gern formuliert wird.
Weizenbaum Ich glaube allerdings, dass das Problem tiefer geht. Im Geschäftsleben ist durchaus eine Dringlichkeit da; zumindest wird das behauptet. Man bekommt eine E-Mail, und der Absender erwartet ziemlich sofort eine Reaktion. Das allein hat eine Auswirkung. Man wird dazu genötigt, in Eile Entscheidungen zu treffen, die auf den ersten Blick vielleicht trivial aussehen mögen, bei denen sich aber später herausstellt, dass sie doch wichtig waren, weil sie nämlich einen Rattenschwanz an Konsequenzen nach sich ziehen. Ganz davon abgesehen, dass Sie nie wissen können, wer früher oder später Zugriff auf diese Informationen hat. Einen Brief kann man zerreißen; oder sagen, man habe ihn nie bekommen. Löschen Sie dagegen eine E-Mail, ist sie womöglich immer noch existent. Es gibt keine absoluten Garantien.
Bolz Da ist sicher was dran. Allerdings ist diese Problematik der Dringlichkeit nicht durch E-Mails in die Welt gekommen, sondern der modernen Gesellschaft insgesamt eigen. Früher handelte es sich eben um ein Fax, das sich als solches schon dringlich gebärdet: Es kommt sofort aus der Maschine heraus – und womöglich steht noch „Eilt!“ oder „Sofort vorlegen!“ darauf. Das ist längst ein generelles Organisationsprinzip geworden. Die moderne Gesellschaft benutzt Zeit, um Komplexitätsprobleme zu managen. Besonders deutlich wird das in der Umkehr: Hat jemand Zeit, ist das schon mal ein schlechtes Zeichen. Der ist entweder arbeitslos oder irrelevant. Haben Sie heute Zeit, wecken Sie automatisch Zweifel an Ihrer Kompetenz. Unsere Kultur benachteiligt sämtliche Techniken, die mit Zeitverbrauch assoziiert werden.
„Wir sind keinesfalls Sklaven unserer Medien, wie es immer so gern formuliert wird.“
Norbert Bolz
Können Sie uns bitte ein Beispiel geben?
Bolz Nehmen Sie das Wort ‚Besonnenheit’: Bloßes Aussprechen dieses Begriffes bewirkt, dass Sie sich im 18. Jahrhundert wähnen. Nachdenklichkeit, Besonnenheit – das sind Qualitäten, die eindeutig durch die moderne Kultur diskreditiert werden. Was die Diagnose angeht, teile ich Herrn Weizenbaums Einschätzung hundertprozentig. Ich sehe nur eben keine rechte Alternative, denn diese Entwicklungen sind irreversibel. Ich finde, man muss umgekehrt denken: Ob es Medien- oder Organisationstechniken gibt, die zumindest einigen die Chance eröffnen, die Zeit auf die eigene Seite zurück zu holen. Und da bin ich nicht gar so pessimistisch. E-Mail war für mich ganz persönlich ein Befreiungsschlag.
Weil Sie nicht gerne telefonieren?
Bolz Ganz genau. Es ist mir sogar richtiggehend unangenehm. Und zwar, weil man sich, wenn man erst einmal abgenommen hat, so schlecht verleugnen kann. E-Mail ist doch phantastisch, ein Souveränitätsmedium! Ich selbst bin der Herr. Ich kann die Erwartung der Gleichzeitigkeit einigermaßen erfüllen und trotzdem so viel Delay einbauen, wie ich möchte. Und wenn ich gar keine Lust habe zu antworten, dann lasse ich’s eben bleiben. Für mich ist das geradezu diejenige Killer-Anwendung, die mir letzten Endes ein Stück Freiheit gebracht hat.
Womit wir bei einer der Kernthesen Ihres „Konsumistischen Manifests“ angelangt wären: Entfremdung ist positiv, weil man so wenigstens die Wahl – beziehungsweise seine Ruhe – hat.
Bolz Sagen wir lieber so: Die Entfremdung müssen wir als Schicksal hinnehmen – und wenn wir das eingesehen haben, lernen wir zu unterscheiden. Man lernt, die Gewinne zu schätzen. Die Geburt der Freiheit aus dem Geist der Entfremdung – das ist das Motiv das man viel stärker betonen müsste, statt immer nur über den Verlust zu jammern.
Herr Weizenbaum, Sie haben eben die ganze Zeit eifrig Dinge notiert. Sie sind anderer Meinung?
Weizenbaum Ja, ja. Das alles stimmt natürlich irgendwo. Dennoch frage ich mich, wie oft im weiteren Verlauf dieses Gespräches Worte wie ‚Schicksal’ und ‚unabänderlich’ fallen werden. Hier wird getan, als seien Schnelligkeit und Dringlichkeit über uns gekommen wie das Klima. Es ist doch genau umgekehrt: Die Technologie hat uns diese Dringlichkeit gebracht, und E-Mail ist da nur ein Phänomen. Klar, es gibt auch gewisse Vorteile, doch dass die überwiegen, halte ich für eine äußerst gewagte These. In den letzten 30 Jahren hat sich das Computerwesen untrennbar mit der Kommunikationstechnologie verstrickt. Das Internet – wir nannten es damals World Wide Wait…
Bolz (lacht) Na, sehen Sie! Das ist doch ein Fortschritt. Zumindest das haben wir hinter uns.
Weizenbaum Na ja, nicht ganz. Diese Ehe zwischen Kommunikation und Computerwesen ermöglicht es uns, riesige Massen von Daten – und ich sage ganz bewusst nicht Information – in sehr kurzer Zeit zu transportieren. Ich erinnere mich noch genau daran, was für ein Aufriss das nach dem Zweiten Weltkrieg war, wenn ich von Boston aus jemanden in Honolulu anrufen wollte. Man musste sich erst verabreden, damit auch beide in der Nähe des Telefones sind, wenn die Verbindung hergestellt wird, und der am meisten benutzte Satz des Gespräches war: „Can you hear me?“ (lacht) Heute dagegen können Sie den gesamten Stand der Börse von Tokio ‚in Echtzeit’, wie Sie sagen, zu Hause mitverfolgen. Jedenfalls hat diese Unmittelbarkeit Konsequenzen. Heute haben wir eine Weltbörse, und die an sich schöne Idee, dass man Geld in eine Firma investiert, der man vertraut, ist als solche pervertiert aufgrund der allgegenwärtigen Geschwindigkeit. Sie können sich die zehn Minuten für einen Kaffee nicht mehr erlauben, weil Sie in derselben Zeit möglicherweise 50.000 Dollar verlieren.
Bolz Aber das ist ja im Grunde wieder dasselbe Thema: Die Zeit selber ist doch der kritische Faktor! Das ist kein Effekt der Kommunikationstechnologie, höchstens wird dieser Effekt von ihr verstärkt. Ist es nicht vielmehr so, dass wir gelernt haben? Wir sind ja auch privat gehetzt wie nie zuvor, weil wir die Erfahrung machen, dass die Zeit kostbar ist – konvertierbar in Geld! Und damit wird sogar die Freizeit kostbar, zum Gegenstand von Kalkül. Selbst dort ist man um einen rationalisierten Umgang mit der Zeit bestrebt. Man setzt Medien gezielt für Dinge ein, die man früher mit Besonnenheit und in Ruhe organisiert hat: etwa, um den Tisch im Restaurant zu bestellen. Was ist daran schlimm?
Weizenbaum Sie umgehen noch immer standhaft den springenden Punkt: Erst die moderne Kommunikations- und Computertechnik hat all das möglich werden lassen! Eine andere Konsequenz der Technologie besteht genau darin: Sie scheint uns gewissermaßen zu zwingen, sie zu nutzen. Weil die Menschen nun einmal gierig sind.
Was aber wäre die Lösung, wenn die beschriebenen Entwicklungen im Sinne einer Evolution tatsächlich unumkehrbar wären?
Bolz Dann kann man zumindest nichts mehr rückgängig machen durch einen Eingriff, sondern…
Weizenbaum …man darf erst gar nicht anfangen damit! Jetzt ist es zu spät, sicher, und selbst wenn wir es umdrehen könnten, ist mehr als fraglich, ob die Menschen an den entscheidenden Positionen das überhaupt wollen. Es ist heute möglich, von einem kleinen Büro in, sagen wir, Des Moines, Iowa aus eine Industrie zu leiten, die sich von Indien über Südostasien bis nach Australien erstreckt. Auch das wäre ohne die seit ein paar Jahren erreichbare Geschwindigkeit der Kommunikation nicht denkbar. Wir nennen diesen Effekt heute Globalisierung – die Folgen sind Armut, Revolutionen und Terror. Wenn wir von Vernetzung sprechen und dabei nur das Versenden von E-Mails – von denen noch dazu das Gros aus Quatsch besteht – im Kopf haben, greifen wir zu kurz. Wir übersehen das große Ganze!
Bolz Diese Darstellung würde ich unterstreichen, soweit sie wirtschaftliche Prozesse betrifft. Alle Phänomene, die Sie beschrieben haben, sind natürlich in ihrer zugespitzten, oft auch katastrophalen Form nur durch die Beschleunigungskraft der neuesten rechnergestützten Medien möglich. Denken wir hingegen an den Casino-Kapitalismus, der für Sie ein solches Menetekel darstellt: Der wird nicht durch Computer möglich, sondern durch die radikale Monetarisierung der Wirtschaft. Dadurch, dass wir heute an Geld alles messen. Hätten wir diese für moderne Gesellschaften typische Entwicklung nicht gehabt, wäre es dazu nicht gekommen. Computer beschleunigen und intensivieren diese Prozesse nur – ebenso, wie sie Phänomene wie Klatsch und Tratsch verstärken.
Worin besteht denn deren Funktion innerhalb einer modernen Gesellschaft?
Bolz Ich sehe darin nicht weniger als das Medium der sozialen Kontrolle unserer Zeit, in der es keine Moral mehr gibt, die verbindlich wäre. Wir haben Klatsch und Tratsch im Weltmaßstab – auch diese Dinge sind vor dem Hintergrund neuer Medien ins Unendliche angewachsen. Als Medienwissenschaftler ist es meine Aufgabe, überall dort, wo ein normaler Mensch „Igitt!“ ruft, zu überlegen, wozu man das braucht. Vieles, was uns zunächst eine erschreckende Fratze zuwendet, wofür viele Menschen bluten müssen, hat nämlich eine enorm sinnvolle Funktion. Natürlich geht kulturell massenhaft verloren. Aber Kultur ist generell und immer ein Nullsummenspiel. Seit der Zeit der Griechen haben wir mehr verloren, als ich Ihnen aufzählen könnte. Nur haben wir uns die simple Frage zu stellen, ob wir die Moderne ernsthaft nicht wollen! Gehen Sie hin und sagen mir offen ins Gesicht: „Ich habe mit der Moderne nichts am Hut, für mich kann das Reich Gottes ruhig kommen.“ Dann bin ich mit Ihrer Kritik einverstanden.
Es scheint mir bei Ihnen, Herr Bolz, um eine relativ wertungsfreie Diagnose des Ist-Zustandes zu gehen, während Sie, Herr Weizenbaum, eher nach den Folgen fragen und mit Begriffen wie Ethik und Moral operieren.
Weizenbaum Wie ich Sie, Herr Bolz, verstehe, trifft den Fortschritt als solchen keine Schuld. Das kann ich nachvollziehen. Man sollte aber schon erwarten können, dass die Menschen, die das alles entwickelt haben, zuvor über eventuelle Konsequenzen nachgedacht haben. Ein brillanter Physiker verriet mir einmal, dass es problemlos möglich sei, einen atomaren Sprengsatz von der Größe eines Füllers herzustellen. Wenn man sich vorstellt, was so ein Ding in der Hand eines Spinners anstellen würde, dann ist es doch einfach komplett verrückt, so was zu bauen! Sie sprechen von Koevolution, als seien diese Entwicklungen zwangsläufig geschehen, und das halte ich schlicht für gefährlichen Bullshit. Als ich angefangen habe, Computer zu bauen, da nahm so ein Gerät einen großen Raum ein. Aus diesen Giganten ist heute ein Laptop geworden – weil das Militär es brauchte. Wir hatten Angst, dass die Russen mit ihren Bombern zu uns herüberfliegen, also benötigten wir neue Radargeräte und Rechner, die diese Daten schneller auswerten.
Bolz Darf ich hierzu…
Weizenbaum …nein, Augenblick! Sie betonen immer, wie elegant das alles funktioniert. Ich aber war mittendrin – das ‚MIT’ ist eng verbunden mit dem Pentagon, speziell das ‚Laboratory for Computer Sciences’, dessen Mitgründer ich war. Irgendwann stand die Idee des elektronischen Schlachtfeldes im Raum. Den Ausschlag gab das sogenannte Weihnachtsbomben in Vietnam. Professoren aus Harvard und vom MIT beschworen die Politiker, sofort damit aufzuhören. Deren Antwort: „Okay, machen wir – wenn Sie mir eine Methode an die Hand geben, den Waffentransport über den Ho-Chi-Min-Pfad zu unterbinden.“ Nur aufgrund dieses Satzes haben wir furchtbare Sachen erfunden! Von elektronischen Zäunen bis zum Szenario des elektronischen Schlachtfeldes. Das Hauptquartier des Irakkrieges befindet sich in Florida, und es funktioniert überhaupt nicht. Weder haben wir die Situation unter Kontrolle, noch haben wir aus Vietnam gelernt.
Bolz Sie irren sich, und wissen Sie auch, warum? Alle diese technischen Erfindungen, zumindest in Form von Kommunikationstechnologien, haben längst eine Eigenlogik entwickelt. Nicht eine einzige der heutigen Killer-Applikationen der Medientechnik – vom Internet über das Fernsehen bis zur E-Mail – ist in dieser Tragweite antizipiert worden! Ihr Potenzial, ihre Eigendynamik und eigene Anwendungslogik haben sie evolutionär entfaltet. Sicher nicht ohne externe Interessen, aber eben ohne, dass sie, einmal angestoßen, noch explizit steuerbar gewesen wären.
„Seit der Zeit der Griechen haben wir kulturell mehr verloren, als ich Ihnen aufzählen könnte. Nur haben wir uns die simple Frage zu stellen, ob wir die Moderne ernsthaft nicht wollen.“
Norbert Bolz
Und das gilt auch für das Internet?
Bolz Ganz besonders dafür, ja. Es hat sich aus der militärischen Notwendigkeit, ein abhörsicheres Kommunikationsmittel zu haben, entwickelt. Das bleibt wahr, sagt aber letztlich überhaupt nichts über die Kommunikationswirklichkeit des Internet heute. Das ist eigentlich die kleine Differenz, die ich aufmachen möchte.
Weizenbaum Sie sagten, das alles sei nicht geplant gewesen – na, das ist doch gerade der springende Punkt! Wir sollten mittlerweile gelernt haben, dass die Nebenwirkungen von Dingen, die wir in die Welt stellen, in aller Regel weitaus umfassender sind, als die Erfindung selbst. Statt diesem Umstand Rechnung zu tragen, entwickeln wir munter drauflos, auch wenn wir nicht im Mindesten wissen, was daraus folgt. (überlegt) Als ich in den Siebzigern Seminare gab und wir über die Welt im Jahre 2000 nachdachten, haben wir uns Gedanken gemacht über die Klimakatastrophe oder die Möglichkeit eines Atomkriegs und waren der Meinung, dass es reicht, wenn wir uns in 300 Jahren langsam darum kümmern. Ein Fehler: Kürzlich erst stolperte ich über ein Interview mit Stephen Hawking, der ebenfalls ganz nebenbei davon sprach, wie wir eines Tages das Ende der Welt erleben würden. Nicht in 200 oder 100, sondern in 30 oder 50 Jahren! Wir können uns zu unseren tollen Errungenschaften gegenseitig auf die Schulter klopfen – aber wenn es uns unsere Kinder kostet, unsere Kultur und unsere Zivilisation, dann halte ich den Preis doch für ein wenig überhöht.
Bolz Haben Sie denn irgendeinen Anhaltspunkt für den Untergang der Welt?
Weizenbaum Ich bitte Sie – die Welt als solche wird überhaupt nicht untergehen in den nächsten 1000 Jahren. Dafür werden binnen der nächsten zehn Jahre einige Nationen im Pazifik verschwinden! Wir sehen doch mit eigenen Augen, was heute klimatisch passiert.
Bolz Wir sehen es im Fernsehen! Wir sehen, dass ständig Wissenschaftler von diesen Entwicklungen sprechen und Dinge prognostizieren. Am Ende haben weder Sie noch ich besonders viel Ahnung vom Wetter. Wir referieren, was uns die Massenmedien zuvor erzählt haben, die die Angst vor Phänomenen wie der globalen Erwärmung schüren. Es gibt für beide Annahmen entsprechende Statistiken. Wenn Sie mögen, können Sie auch belegen, dass es in New York in den letzten 100 Jahren nicht einmal eine Erwärmung um Zehntelgrade gegeben hat. Gerade wir Wissenschaftler sollten nicht als Lautsprecher hergehen und den Leuten mit ungesicherten Prophezeiungen Angst einjagen – wir sollten das Problem so rational wie möglich von allen Seiten abwägen.
Weizenbaum Was ist mit den Hitzewellen, die es in Europa bislang kaum gab? Die habe ich mir doch nicht ausgedacht! Darüber hinaus schmilzt nördlich des Polarkreises das, was man ‚ewiges Eis’ nennt. Es ist leider gar nicht so ewig! In Russland sind bereits heute diverse Städte am Polarkreis im Begriff, zerstört zu werden. Wie kann man da von Spekulation reden? Sie nennen immer die Massenmedien – natürlich sind davon 90 Prozent Schrott, egal, ob man Fernsehen, Radio, Zeitungen, Internet oder Bücher nimmt. Da stimme ich Ihnen zu. Auf die restlichen 10 Prozent kommt es an, die sind sehr wertvoll.
Bolz Das Spannende an unserem Thema ist doch Folgendes: Egal, ob es um Kriege geht, um Atomwaffen oder die globale Erwärmung – es gibt keinen Zweifel daran, dass die Diskussion über all diese Faktoren in den Massenmedien stattfindet. Und die haben nun mal eine Vorliebe für schlechte Neuigkeiten, für Skandale und Katastrophen. Der Weltuntergang ist interessanter als die These, dass es uns im Grunde besser geht als vor 30 Jahren. Vielleicht ist Amsterdam überflutet – aber dafür wachsen plötzlich Palmen in Bottrop. (lacht) Meinen Sie, das wollte jemand hören? Die Kassandra verkauft sich gut. In der Sache sind wir beide doch gar nicht so weit auseinander, wie Sie offensichtlich denken.
„Was die Leute heute überwiegend mit dem Netz anstellen – das Surfen ohne klar definiertes Ziel – ist eine Dummheit.“
Joseph Weizenbaum
Weizenbaum (stöhnt) Sehen Sie, deshalb habe ich mir Talkshows abgeschminkt. Da rennt am Ende die Zeit weg, und dann heißt es lapidar: „Aber im Allgemeinen sind wir ja alle derselben Meinung.“ Von wegen! Wir sind eben nicht einer Meinung! Zumal ich Beispiel um Beispiel liefere: Was ist mit der Spanischen Grippe, die kurz nach dem Zweiten Weltkrieg mehr Menschen das Leben gekostet hat als der Krieg? Kürzlich haben Wissenschaftler dieses Virus wiederhergestellt, damit ein Impfserum entwickelt werden kann. Und nicht nur das: Man hat die gesamte DNA des Virus veröffentlicht! Gut möglich, dass das die größte Kriminaltat der Menschheit überhaupt gewesen sein wird. Man braucht keine riesigen Forschungseinrichtungen oder Milliarden von Dollar, um dieses Zeug herzustellen. Das kann Israel ebenso bewerkstelligen wie Syrien oder die Nordkoreaner. Sogar Privatleute können das. Wir alle kennen doch unsere Welt, wissen um Terrorismus und dergleichen! Warum also tun wir so etwas völlig unreflektiert, statt es zu hinterfragen und zu unterbinden? Das ist keine mediale Angstmache – wir leben in einer ungeheuer gefährlichen Welt!
Ich würde trotzdem gern noch einmal auf einen Themenkomplex zurückkommen, den Sie bereits andeuteten, Herr Weizenbaum: den Unterschied zwischen Daten und Information.
Weizenbaum Oh ja, das ist sehr wichtig. Das eine verwaltet die Technik, das zweite macht der Mensch. ‚Ich werde heute Abend spät nach Hause kommen’ – das ist eine Nachricht. Aber wie viel Information enthält sie? Kann das gemessen werden? Die Antwort lautet: nein. Erst Interpretation lässt aus Signalen, Zeichen oder Daten Information entstehen – und das kann nur im Gehirn geschehen. Dass eine Maschine Vergleichbares leistet, dass sie tatsächlich versteht, ist unmöglich. Und genau an dieser Stelle kommen wir zu einem Punkt, der unsere Welt retten könnte: Man muss die Menschen wieder dazu bringen, dass sie Dinge kritisch interpretieren. Was nichts anderes heißt, als dass sie ihrer eigenen Sprache mächtig sind, sich klar und deutlich ausdrücken. Dieser Anspruch an Bildung fehlt zunehmend in unserer Gesellschaft. Ohne die Fähigkeit, kritisch zu denken, werden wir zu Opfern des grassierenden Blödsinns und der Propaganda.
Was eben auch besonders für das Medium Internet gilt.
Weizenbaum Auch dafür, ja. Eine gute Frage ist im Internet wie ein Experiment in der Physik. Hier wie dort kommt man nicht darum herum, bereits im Vorfeld eine Menge über das betreffende Gebiet zu wissen. Man muss die Sprache – im Falle der Physik wäre das die Mathematik – beherrschen, damit man sinnvolle Ergebnisse erhält.
Kann man das lernen: gute Fragen im Internet zu stellen?
Weizenbaum Natürlich! Das, was die Leute heute überwiegend mit dem Netz anstellen – das Surfen ohne klar definiertes Ziel oder die geringste Idee, was man sucht – ist einfach eine Dummheit. Wie die Genialität des Menschen hier missbraucht wird, ist eine Frechheit. Stellen Sie sich vor, welch enorme Ingenieursleistung nötig gewesen ist, einen dieser Satelliten zu entwickeln, die heute diese Unmenge an Bit-Ketten rund um die Erde schicken – aber wozu? Sehen Sie sich doch das Gestammel an! Diesen ungeheuren Blödsinn, der damit in der Regel veranstaltet wird! Was für eine Verschwendung von Ressourcen!
Bolz Aber wissen Sie, das ist doch eine der ältesten Geschichten der Medientheorie überhaupt, dass es diese Inkongruenz zwischen Inhalten und technischen Möglichkeiten gibt. Nehmen sie nur die berühmten ersten Worte, die jemals durch ein Telefon gesprochen wurden: „Pferde fressen keinen Gurkensalat.“ Das zeigt doch nur das Grundproblem: Der Ingenieur ist genial, doch was mit seinem Kommunikationsmedium später angestellt wird, entzieht sich komplett seinem Zugriff. Die technologische Entwicklung ist vollkommen abgekoppelt von möglichem Nutzen, Bedeutsamkeit und Sinn. Sie haben vorhin eine Differenz aufgemacht zwischen Daten und Information. Ich würde sogar noch eine dritte Kategorie einführen: Wissen.
Weizenbaum Da stimme ich Ihnen zur Abwechslung mal zu.
Bolz Wo wir gerade dabei sind: Die Nutzungstiefe des PCs liegt in Deutschland derzeit bei etwa fünf Prozent. Die meisten nutzen ihren Computer nach wie vor als bessere Schreibmaschine, statt Wissen damit zu organisieren. Da bleiben uns ganze Universen verschlossen, weil uns die nötige Medienkompetenz fehlt. Sie könnten auch einfach Bildung sagen.
Das Ende der Gutenberg-Galaxis?
Analog zu einigen zeitgenössischen Medientheoretikern geht auch Norbert Bolz davon aus, dass wir uns derzeit in einer Transformationsphase zwischen der sogenannten Gutenberg-Galaxis mit dem Buch als Leitmedium und einer Gesellschaft, die von einem neuen Leitmedium (etwa dem Internet) geprägt ist, befinden. Diese zukünftige Welt wird aufgrund der in ihr vorherrschenden Speicher- und Übertragungsmedien meist als ‚Turing-Galaxis’ bezeichnet. Andere Ansätze (z.B. von Felix Guattari oder Gilles Deleuze) sehen eher Netzwerk-Strukturen als Leitparadigma.
Der ELIZA-Effekt
Das 1966 von Joseph Weizenbaum entwickelte Sprachsimulationsprogramm arbeitet nach dem Prinzip, Aussagen des menschlichen Gesprächspartners in Fragen umzuformulieren und so eine Reaktion auf die Aussage vorzugaukeln. Weizenbaum wollte die Kommunikation zwischen Mensch und Maschine erforschen, zeigte sich aber von den Reaktionen überrascht: Viele Testpersonen vergaßen die Tatsache, dass sie mit einer Maschine sprachen. Oft baten sie darum, sich mit dem System unbeobachtet zu unterhalten, und bestanden später darauf, dass die Maschine sie verstanden habe. Aktuelle Versionen der Software kursieren noch heute im Netz.
Wenn ich Herrn Weizenbaums Theorien korrekt verstanden habe, ist das Dilemma aber nicht dadurch in den Griff zu bekommen, dass man Kinder früher mit der Computertechnik konfrontiert.
Weizenbaum Bloß nicht! Heute wissen die Neurologen, dass bereits ein neugeborenes Kind so viele Neuronen im Gehirn hat wie später als Erwachsener, und dass etwa die Hälfte davon zunächst unorganisiert ist, also keine feste Verschaltung aufweist. Dass sich bei Jugendlichen, die drei oder mehr Stunden pro Tag fernsehen oder Computerspiele spielen, eine irreversible Struktur der Dummheit etabliert, gilt als wissenschaftlich gesichert. Und das sind Generationen! Millionen von heute 30-Jährigen, die mit einem Apfelmus-Gehirn durch die Gegend laufen. Insofern wäre es dumm, für die Neueinführung von Computern an Schulen finanziell die Bibliotheken zu schwächen oder gar zur Disposition zu stellen. Das Allerwichtigste ist, den Kindern beizubringen, dass sie sich klar und deutlich artikulieren können. Selbst ein Großteil der Studenten an amerikanischen Elite-Universitäten schafft es nicht, auch nur eine einzige Seite ohne grobe Fehler zu Papier zu bringen.
Wissen Sie, was interessant ist? Bei allen Diskrepanzen, die zwischen Ihnen herrschen, weisen die Titel Ihrer letzten Publikationen auffällige Ähnlichkeiten auf, was die Bildsprache betrifft. Beide suggerieren eine gewisse Orientierungslosigkeit im Kontext mit neuen Medien. Bei Herrn Bolz heißt das dann „Blindflug mit Zuschauer“, bei Herrn Weizenbaum „Das verkabelte Irrenhaus“. Würden Sie, Herr Bolz, Herrn Weizenbaums Diktum zustimmen?
Bolz Nein, das entspricht ganz und gar nicht meiner Perspektive. ‚Blindflug’ hat bei mir eine ganz andere Bedeutung, indem er nämlich für einen Instrumentenflug steht, einen Flug mit Autopilot – und dahinter steht letztlich eine optimistische Grundhaltung. Die Botschaft, dass wir uns selbst in Situationen vollkommener Unübersichtlichkeit auf die Instrumente verlassen können und im Regelfall sicher landen. So ist unsere heutige Welt nun einmal. Wir starten trotz Bodennebels und kommen dank unserer Technologien doch sicher ans Ziel. Vorausgesetzt, wir haben eine gewisse Umgangsgeschicklichkeit erworben. Kubricks „Dr. Seltsam“ hätte wohl gesagt: „Lerne die Ungewissheit zu lieben!“ Das ist meine Überzeugung, und dazu stehe ich.
Weizenbaum Ich möchte Ihnen antworten, indem ich im Bild bleibe: Ich fliege also über den Atlantik; es ist zwei Uhr morgens. Plötzlich spricht der Kapitän: „Ladies and Gentlemen, sorry, dass ich Ihren Schlaf störe, aber ich habe zwei wichtige Nachrichten. Die Gute: Wir haben derzeit etwa 1000km/h Rückenwind und kommen deshalb unglaublich schnell voran. Die Schlechte: Sämtliche Instrumente sind ausgefallen, und wir wissen absolut nicht mehr, wo wir sind oder wohin wir fliegen. Das beschreibt unsere momentane Situation um einiges präziser, fürchte ich. Die Naturwissenschaft vollzieht wahre Purzelbäume, vollbringt Unfassbares – und keiner von uns macht sich wirklich Gedanken darüber, wohin das alles führt.
Zur Person
Joseph Weizenbaum
Eine kurze Biografie
Joseph Weizenbaum kam am 08.01.1923 in Berlin zur Welt. 1936 emigrierte die Familie 1936 in die USA, wo Weizenbaum Mathematik studierte und während des Zweiten Weltkrieges als Meteorologe bei der US Luftwaffe diente. In den 50er/ 60er Jahren machte er sich als Computerentwickler einen Namen und wurde 1963 an das Massachusetts Institute of Technology (MIT) berufen. Berühmtheit erlangte er durch die Entwicklung des ersten echten Teilnehmer-Rechensystems, aus dem die militärisch genutzte Blaupause des Internet – das sogenannte ARPA-Netz – hervorging sowie durch sein Sprachanalyseprogramm ‚ELIZA’. Joseph Weizenbaum starb am 05.03.2008 in Groben bei Berlin.
Zur Person
Norbert Bolz
Eine kurze Biografie
Norbert Bolz wurde am 17.04.1953 in Ludwigshafen geboren. Nach dem Abitur studierte er in Mannheim, Heidelberg und Berlin Philosophie, Germanistik, Anglistik und Religionswissenschaften. Von 1992 bis 2002 war Bolz Universitätsprofessor für Kommunikationstheorie am Institut für Kunst- und Designwissenschaften der Universität GH Essen mit den Arbeitsschwerpunkten Medientheorie, Kommunikationstheorie und Designwissenschaft. In dieser Zeit entwickelte er auch seine umfassende „Theorie der neuen Medien“. Seit 2002 ist Bolz Universitätsprofessor am Institut für Sprache und Kommunikation der TU Berlin. Norbert Bolz lebt mit Frau und vier Kindern in Berlin.