Coffee & Cigarettes

Gilles Tréhin
Ein Trip in
eine andere Welt.

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“Für mich sind Städte lebendige Gebilde. Ich war schon als Kind nicht an Comics interessiert, sondern studierte ausschließlich geografische und architektonische Fachbücher.”

11.984.816 Einwohner. 35 Bezirke. 145 Theater und 87 Kinos. Vier internationale Flughäfen. Kühne Architektur. All dies bietet Urville, gelegen auf einer Insel vor der französischen Mittelmeerküste. Bloß eine Reise dorthin werden Sie nie machen können: Die Stadt ist eine atemberaubend detaillierte Schöpfung des 34-jährigen Autisten Gilles Tréhin.

Rubrik
Coffee & Cigarettes

Date
16. August 2006

Ort
Cagnes-sur-Mer nahe Nizza

Erschienen in
GALORE 03/2006

Fotos
Ali Ghandtschi ➔

Tréhin bewohnt die erste Etage einer ehemaligen Pension. Dass autistische Menschen nicht gerne kommunizieren, gerät beim Interview ebenso in Vergessenheit wie die Tatsache, dass die Millionenstadt Urville lediglich auf dem Papier und in der Fantasie des 34-jährigen Franzosen existiert.

 

Monsieur Tréhin, wie schwer fällt es Ihnen, Ihre Liebe zu Städten einem Außenstehenden zu erklären?

Das ist in der Tat ziemlich kompliziert. (überlegt) Am Anfang stand eine Faszination für Wolkenkratzer, die mit meiner Kinderzeit in New York zusammenhängt. Als kleiner Junge konnte ich einfach nicht umhin, von der schieren Wucht und Größe dieser Gebäude beeindruckt zu sein.

 

Wie ist das, wenn Sie heute in einer Metropole wie eben New York sind: Ist es nicht auch die Komplexität, das Systematische daran, das Sie anspricht?

Inzwischen ist das ein Faktor, sicher. Aber als ich jünger war nicht. Wenn ich heute an meinem Urville-Projekt sitze, muss ich oft alles drei-, viermal überdenken, weil es immer komplizierter wird. Alles hängt miteinander zusammen, beeinflusst sich gegenseitig. Schulen, öffentlicher Nahverkehr, Einkaufspassagen, Grünanlagen – es gibt nichts Komplexeres als eine Großstadt. Man muss an alles gleichzeitig denken.

 

Schauen Sie sich gezielt andere Städte an, um sich inspirieren zu lassen?

So oft es geht. Ich war zuletzt in Rom, Barcelona, Amsterdam und Catania. New York haben Catherine und ich uns vergangenes Jahr sogar vom Hubschrauber aus anschauen dürfen. Mich interessieren die Details dieser Entitäten. Denn das sind Städte für mich: lebendige Gebilde. Ich war schon als Kind nicht an Comics interessiert, sondern studierte ausschließlich geografische und architektonische Fachbücher.

 

Haben Sie eine Lieblingsstadt?

Müsste ich mich entscheiden, dann wäre es wohl tatsächlich New York. Es ist eine Metropole, in der ich mich einfach gut fühle. Frei. Die Leute dort starren einen nicht an, man lässt mich in Ruhe. In Paris fühle ich mich ständig beobachtet. Nicht, dass Sie mich falsch verstehen: Es ist eine architektonisch durchaus schöne Stadt. Aber eben viel zu sehr verklärt, mystifiziert. Unter all dieser Mystifizierung bricht Paris schier zusammen. Das hält keine Stadt auf Dauer aus. Japaner zum Beispiel, die sehen eine Postkarte, sind fasziniert, ziehen hin – und dann werden sie depressiv! Sie zerbrechen an der Unorganisiertheit und Gegensätzlichkeit der Stadt.

new-york

New York

ist eine Weltmetropole an der Ostküste der USA. Mit über 8 Millionen Einwohnern gilt sie als bevölkerungsreichste Stadt der Vereinigten Staaten und ist für viele ein beliebtes Reiseziel.

Noch mal zu New York: Gefällt Ihnen die konsequente Nummerierung der Straßen?

(trocken) Es ist zumindest nicht unlogisch. Ein klares, gut organisiertes System. Ich mag das. Der modernere Teil Urvilles hat eine ganze Menge von Manhattan. Was einzelne Architekten angeht, so schätze ich beispielsweise Norman Foster sowie einiges von Jean Nouvel, der bei Ihnen in Berlin die Galeries Lafayette entworfen hat.

Als Sie damals mit 15 Jahren mit dem Entwurf von Urville begannen, gab es da einen konkreten Anlass oder Auslöser?

Oh ja, den gab es: Vor 22 Jahren hatte ich als Flugzeug-Fan einen gigantischen Flughafen aus Lego gebaut. Eines Tages fragte mich jemand, ich glaube, es war mein Vater, nach der dazugehörigen Stadt und deren vermutlicher Größe. Ich wollte sie bauen, doch solche immensen Mengen Steine kann sich kein Mensch leisten. Ganz zu schweigen von der Platzfrage. Also verlegte ich mich, nach ersten Anfängen in Lego, schließlich1987 aufs Zeichnen. (lacht)

Was an Ihrer fiktiven Stadt ist einzigartig?

Dazu muss ich Ihnen einen Aspekt erläutern, der zum Verständnis meines Projekts wichtig ist. Wir haben in Frankreich ein Problem, das Sie in Deutschland gar nicht kennen: Frankreich ist in jeglicher Hinsicht zentralistisch aufgebaut; geradezu stalinistisch. Alles weist und schaut nach Paris. Versuchen Sie mal, von Strassburg oder Nizza nach Tokio oder Johannesburg zu fliegen – Sie kommen nicht umhin, in Paris umzusteigen. Spanien hat Barcelona als Ausgleich. Selbst in Italien haben Sie mit Mailand, Turin und Neapel zumindest noch einige ernstzunehmende Kontrahenten. Jedenfalls dachte ich mir, dass es schön wäre, einen ähnlich mächtigen Gegenpol zu schaffen, eine Metropole, die Paris in politischer, sozialer und demografischer Hinsicht das Wasser reichen könnte. Also habe ich sie mir gebaut. Zumindest für mich habe ich das Problem behoben.

Wie viel Zeit verbringen Sie täglich im Schnitt mit alledem?

Zwischen sechs und zehn Stunden. Inklusive Samstag und Sonntag. Für mich gibt es kein Wochenende. Wenn man gut organisiert ist, schafft man eine Menge im Verlaufe eines Lebens.

„Frankreich ist in jeglicher Hinsicht zentralistisch aufgebaut; geradezu stalinistisch. Alles weist und schaut nach Paris.“

Ist Ihre Stadt besser als real existierende Großstädte?

Es ist keine idealisierte Stadt, falls Sie das meinen. Es war mir wichtig, dieser Versuchung zu widerstehen. Idealismus hat immer nur für denjenigen Bestand, der die Stadt erschafft – nicht für die Menschen, die dort leben. Natürlich gibt es ein paar Verbesserungen: Zum Beispiel achte ich sehr genau darauf, dass auch behinderte Personen problemlos den öffentlichen Nahverkehr nutzen können. Das ist speziell in Frankreich eine einzige Katastrophe. Dieser Staat denkt stets nur an die Mehrheit; Minderheiten, gleich welcher Art, sind ihm völlig egal. Überhaupt lege ich großen Wert auf ein funktionierendes U- und Straßenbahn-System sowie ein gut ausgebautes Busnetz. Urville ist in manchen Dingen ein bisschen besser, aber eben bei weitem nicht perfekt. (überlegt) Momentan haben wir eine Frau als Bürgermeisterin: Christine Gouberte.

 

Das könnte sich ja morgen ändern.

Könnte es nicht: Die Stadtparlamente in Frankreich werden erst 2008 neu gewählt. Urville ist ein Teil Frankreichs, und hier an der Cote d’Azur regieren die Sozialisten. Goubert bekam über 50 Prozent der Stimmen; sie ist sehr populär.

 

Nehmen wir an, Sie schauten hier bei Cagnes aufs Meer hinaus – können Sie exakt bestimmen, wo Urville sich befindet?

Südsüdwestlich von hier. Ich sehe es sogar vor mir. Leider ist das Wetter heute nicht gut genug, sonst würde ich es Ihnen zeigen. Das ist die Wahrheit. Früher zeichnete ich die Insel sogar immer auf den Straßenkarten meiner Eltern ein. Ohne Urville erschienen sie mir seltsam… unvollständig. Die Stadt existiert, und wann immer es politische Entwicklungen in Frankreich gibt, ist auch Urville betroffen. Auch in Urville gab es Straßenkämpfe. Es ist eine vergleichsweise rebellische Stadt.

 

Inwiefern?

Sie ist sehr studentisch geprägt. Die Menschen in Urville hinterfragen das zentralistische Gebaren, das in Paris herrscht.

Es scheint schier unfassbar, dass Sie die Stadt nicht bloß architektonisch entworfen, sondern auch in Ihren soziografischen, politischen und historischen Hinsichten bis ins Detail erforscht haben. Ist Ihnen das ebenso wichtig wie die Gebäude?

Klar. Was für einen Wert hätte eine Stadt, wenn sie nicht lebte? Es ist eine von den Phöniziern gegründete Siedlung, was weitreichende Konsequenzen birgt.

 

Stimmt es, dass Sie sogar die Spielpläne der diversen Theater im Kopf haben? Inklusive der Werkgeschichte der dort aufgeführten Stücke?

Das stimmt. Ebenso sämtliche gezeigten Filme sowie deren Schauspieler und Regisseure. Auch deren Lebensgeschichten sind mir bekannt. Die Architekten der Bauwerke, ob tot oder noch am Leben. Ich habe sowohl Filme erfunden, die in Urville gedreht wurden, als auch solche, die in Hollywood entstanden sind. Wissen Sie, das ist ein komplettes Paralleluniversum. (überlegt) Sogar einen deutschen Fußballer, der für Olympique d’Urville spielt, habe ich erfunden: Matthias Pfeitergall. (lacht) Wir haben darüber hinaus noch einen zweiten Erstligaclub, er heißt Dynamic Racing Club d’Urville.

 

paralleluniversum

Gilles Tréhin schuf in seiner Fantasie, bis ins kleinste Detail, ein komplettes Paralleluniversum. Selbst Theater- und Filmvorführungen plante er mit ein.

Nehmen wir einen spezifischen Ort, den Place des Tégartines. Was wissen Sie über diesen Platz?

Zunächst, dass er bereits vor seiner Zugehörigkeit zu Urville Sitz einer Abtei war. Im Mittelalter verließen in ganz Europa eine ganze Menge Mönche die Städte, um der Besteuerung zu entgehen. Sie zogen aus den Städten hinaus aufs Land und gründeten Klöster, unter ihnen auch die Abtei Tégart.

 

Und heute?

Das Kloster existiert noch, doch inzwischen ist die Gegend auch ein schöner Wohnbezirk. Meine Freundin Catherine würde zum Beispiel am liebsten dort mit mir leben. So haben wir uns damals auch kennen gelernt: Sie schrieb mir das in einer Mail, nachdem sie über meine Website gestolpert war. Erst danach haben wir uns das erste Mal tatsächlich getroffen.

 

Kommen wir noch einmal auf Ihre Detaillösungen im Städtebau zurück. Könnte es nicht sein, dass Ihre Ideen und Konzepte auch existierende Städte bereichern könnten oder auf diese anwendbar sind?

Das ist schwer zu sagen, weil jede Stadt andere Probleme und Voraussetzungen hat. Aber ich weiß, dass es Architekten geben soll, die meine Gebäude interessant finden. Aber ob das stimmt?

 

Ich dachte spontan an Temple Grandin, eine autistische Amerikanerin, die sich in Tiere hineinfühlen kann und deren Wissen geholfen hat, den Schlachtvorgang für Nutzvieh erträglicher zu gestalten.

Klar, die kenne ich natürlich. Ich bezweifle allerdings, dass speziell die Franzosen uns Autisten und unserer besonderen Kompetenz in manchen Dingen die nötige Aufmerksamkeit schenken. Für die sind wir kuriose Zirkuspferde. Im Höchstfall beachtet man unsere Kreativität, sieht das Ganze als Kunst. Das ist es ja auch zu einem gewissen Grad. Aber eben nicht nur. Speziell in Frankreich besteht eine weitreichende Missinterpretation des Begriffs Autismus, da er häufig von den Medien missbraucht wird, um kommunikative Defizite von Politikern abzubilden. Ich empfinde das als Angriff auf meine Person. Man sollte da sehr genau sein. Jeder von uns Autisten ist anders, und jeder hat seine ureigenen Potenziale, die es aufzuspüren gilt. Aber wir sind weder Zirkuspferde, die nach Belieben Kunststückchen aufführen, noch geniale Irre. Wie jeder gesunde Mensch haben auch wir Stärken und Schwächen.

 

Wann haben Sie selbst damals gemerkt, dass Sie anders waren als Ihre Spielkameraden?

Für mich war das ja nichts Besonderes. Dass ich nicht war, wie die anderen, habe ich letztlich erst mit 16 oder 17 gemerkt. Da fing ich an, Fragen zu stellen.

„Urville“ – das Buch

Wer sich ein komplettes Bild von der Tiefe und Konsequenz der imaginären Stadt des Gilles Tréhin machen will, dem sei die Anschaffung des Buches des Franzosen empfohlen. Neben einer Vielzahl atemberaubender Detailansichten in unterschiedlichsten Dimensionen und Perspektiven – geordnet nach den 35 Stadtteilen Urvilles – findet sich dort auch eine lückenlose Darstellung der politischen, kulturellen und demografischen Geschichte der Stadt. Zu beziehen ist das Buch, das bislang lediglich in französisch und englisch vorliegt, über Amazon und vergleichbare Online-Anbieter. („Urville“, Jessica Kingsley Publishers, 186 S., 22,50 €)

Wie arbeiten Sie eigentlich ganz konkret? Malen Sie einfach, was in Ihrem Gedächtnis abgespeichert ist?

Ja, mehr oder weniger. In meinem Kopf ist Urville ziemlich vollständig. Ich kann die wichtigen Gegenden und Gebäude aus jeder vorstellbaren Perspektive oder Entfernung zeichnen. Man soll so viel wie möglich sehen können.

 

Kommt es vor, dass Sie versehentlich ein Detail vergessen?

Nein, nie. Ich sehe ja alles vor mir, während ich ein bestimmtes Areal oder einen Straßenzug male. Aber natürlich bin auch ich nicht perfekt. (lacht) Sollte ich irgendwann in der Lage sein, ein Spezialprogramm wie AutoCAD zu bedienen, dann werde ich Urville rendern lassen, um noch näher an die Realität heran zu kommen. Momentan arbeite ich verstärkt an Straßenkarten, Gebirgs- und Fluss-Verzeichnissen, die sich mit den Höhenverhältnissen, dem Gefälle und den daraus resultierenden Strömungen beschäftigen. Das muss alles stimmen und zusammenpassen. Es ist viel Rechenarbeit.

 

Es gibt eine Reihe von Totalen, die allerdings auch nur Ausschnitte zeigen können. Träumen Sie davon, eines Tages eine Gesamtansicht der Stadt zu realisieren?

Das ist nahezu unmöglich. Ich habe einmal einen Straßenplan von Urville komplett auslegen können, und allein das zu sehen, war schon ein unbeschreibliches Erlebnis für mich. Ich war gerührt. Hier ist einfach nicht der Platz dazu. Für eine komplette Ansicht der Stadt müsste ich wohl das Berliner Olympiastadion mieten. Aber ja, irgendwann will ich eine Gesamtansicht zeichnen, bei der man im Hintergrund die Gebirgszüge sehen kann; und zwar an der exakt richtigen Stelle.

„Speziell in Frankreich besteht eine weitreichende Missinterpretation des Begriffs Autismus, da er häufig von den Medien missbraucht wird, um kommunikative Defizite von Politikern abzubilden. Ich empfinde das als Angriff auf meine Person.“

Gibt es noch Gegenden der Stadt, die Ihnen selbst ein Rätsel sind? In die Sie gedanklich noch nie einen Fuß gesetzt haben?

Ja, natürlich. Und Sie können sich nicht vorstellen, wie mich das ärgert. (lacht) Gleichzeitig jedoch sichert es meine Zukunft, denn so lange es Urville gibt, bin ich glücklich. Damit werde ich mein Leben verbringen. Das ist mein Leben! Ich kann mir nicht vorstellen, jemals etwas anderes zu tun. Mir geht es gut.

 

Und wenn Urville irgendwann doch wider Erwarten fertig sein sollte?

Ich weiß nicht. Ein Endzustand scheint mir undenkbar. Sollte die Stadt je komplett sein, zeichne ich eben historische Karten. Bis zum Mittelalter. Urville wird niemals fertig, weil in dem Moment, in dem ich die gerade geschehenen Ereignisse aufschreibe, bereits Neues passiert. Diese Stadt lebt, und ich bin ihr Chronist.

Zur Person

Gilles Trehin Miniportrait

Gilles Tréhin

Französischer Kunst-Savant

Gilles Tréhin kam am 10.01.1972 an der Côte d’Azur zur Welt. Mit fünf Jahren begann er mit dem dreidimensionalen Zeichnen, drei Jahre später diagnostizierte man bei ihm Autismus. Fasziniert von Großstädten, Airports und Flugzeugen, begann Tréhin, der auch mathematische und musikalische Ausnahmebegabungen aufwies, schließlich 1984 mit dem zunächst mentalen Entwurf einer imaginären südfranzösischen Millionen-Metropole namens Urville (www.urville.com), deren architektonischer, geografischer und soziohistorischer Perfektionierung er seither den Großteil seiner Zeit widmet. Tréhin wohnt mit seiner ebenfalls autistischen Freundin, der Diplom-Mathematikerin Catherine Mouet, in Cagnes-sur-Mer.

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